0. Einführung
1. Grundsätzliches zur Internetethik
2. Internetaktivitäten, deren Verbot generell sinnvoll erscheint
3. Herwart Holland-Moritz: Eine Stimme aus Deutschland für grenzenlose Meinungsfreiheit
4. Die technischen Gegebenheiten und ihre ethische Problematik
5. Rechtliche Situation in Deutschland


6. Ethische Bewertung
6. 1. Technische Lösungsansätze
6. 1. 1. Labeling und Filterung gefährden die Informationsfreiheit
6. 1. 2. Sperrung einzelner Seiten als Lösung?
6. 1. 2. 1. Die Sperrung kann umgangen werden
6. 1. 2. 2. Nachteile beim Umgehen von Seitensperrungen
6. 1. 2. 3. Seitensperrungen könnten begrenzt wirken
6. 2. Alternative Ansätze
6. 2. 1. Weltethos für das Internet
6. 2. 2. Globale Rechtsvorschriften vor dem Hintergrund des Weltethos
6. 2. 2. 1. Ein Lösungsvorschlag auf Basis der Anerkennung unterschiedlicher Binnenmoralen
6. 2. 2. 2. Unterschiedliche Binnenmoralen als konstruktive Provokation
6. 2. 3. Jugendschutz
6. 2. 3. 1. Jugendschutz funktioniert nicht “bewahrpädagogisch”
6. 2. 3. 1. Lösung: Erziehung zur Medienkompetenz


7. Resümee
8. Literatur




6. Ethische Bewertung



6. 1. Technische Lösungsansätze


6. 1. 1. Labeling und Filterung gefährden die Informationsfreiheit



Hausmanninger weist zunächst darauf hin, daß das Konzept der Filterung und des Labeling selbst nicht ohne Bezug auf eine Ethik ist, sondern sich vielmehr auf die westlichen ethischen Prinzipien der weltanschaulichen Pluralität und das Recht auf freie Meinungsäußerung beruft, die mittels der genannten Konzepte gewahrt werden sollen. Es handelt sich also um ethische Werte, die keinesfalls allgemein anerkannt sind, sondern in der europäisch-amerikanischen Moderne verortet sind. Daher kann ein Konsens über die hinter dem Konzept stehenden ethischen Prinzipien höchstens für den europäisch-amerikanischen Kulturraum angenommen werden. (307) 
Vor diesem kulturellen Hintergrund aber werden die Techniken der Filterung und des Labeling zum ethischen Problem. “Die Autonomie des Individuums [...] und die Medien- und Kommunikationsfreiheit, die durch diese Konzepte geschützt werden sollen, nämlich erfahren durch sie in Wahrheit eine Gefährdung.” (308) 
Das erste Problem liegt darin, daß die Entscheidung, ob ein Webangebot studiert werden soll, nicht mehr bei dem Nutzer liegt, um dessen autonome Entscheidungsfähigkeit es doch eigentlich gehen soll, sondern bei einer Software, die ihm automatisch die Reflexion über den Nutzen eines Webangebotes abnimmt. Die Medienkompetenz des autonomen Subjekts läge dann nur noch in der Auswahl des Filterprogramms, das der Nutzer installiert oder in den Filterkriterien, die er angibt. (309) 
Zusätzlich besteht die Gefahr, das es zu einer völligen Fremdbestimmung der zugelassenen Internetinhalte kommt, (310)  wenn - wie oben ausgeführt - durch dritte erstellte Negativlisten (bzw. negatives Rating durch dritte) von subjektiven wirtschaftlichen, politischen oder persönlichen Interessen geleitet werden oder die Sperrung einzelner Kategorien grundsätzlich nicht aufgehoben werden kann.
Durch das praktisch nicht funktionierende “keyword-blocking” auf der einen Seite und der von PICS-basierten Systemen wie ICRA erzwungenen Kategorisierung in wenige vorgegebene Kategorien andererseits, die zum “Zwang zu einer schablonierten Selbstverzerrung” (311)  führen, ist anzunehmen, daß es zusätzlich zur Sperrung einer großen Anzahl nützlicher Seiten kommt. (312) 
Durch die genannten Faktoren würde die Kommunikationsfreiheit empfindlich beeinträchtigt und das eventuell, ohne daß die Nutzer davon Kenntnis erlangen würden. (313) 
Zusätzlich sieht Hausmanninger eine große Gefahr für die Kommunikationsfreiheit in einem geplanten und zum Teil in Deutschland bereits umgesetzten (314)  Hotlinesystem, bei dem jeder Nutzer auf aus seiner Sicht bedenkliche Inhalte hinweisen kann. Er sieht hierbei die Gefahr, daß durch organisierten Protest gegen legale, aber bestimmten Gruppen mißliebige Inhalte sich die Betreiber durch eine Minderheit unter Druck gesetzt fühlen, diese Inhalte zu entfernen, was in der Vergangenheit bei anderen Medienformen oftmals tatsächlich zum Entfernen der beanstandeten Inhalte geführt hat. (315) 
Zuletzt führt Hausmanninger gegen das Konzept des Labeling und der Inhaltsfilterung an, daß aufgrund der dann eingeführten Infrastruktur der gekennzeichneten Webseiten staatliche Stellen das System zur Kontrolle auf Providerebene einsetzen und “mit einer politischen Kriteriologie versehen” (316)  könnten und so das Prinzip der Autonomie des Subjektes vollkommen aufzuheben. Somit würde das Konzept des Labelings und damit verbundene Filtern die Bemühungen autoritärer Staaten unterstützen, ihre Bevölkerung politisch zu bevormunden und ihnen den Zugang zu freien Informationen zu verwehren. (317) 




6. 1. 2. Sperrung einzelner Seiten als Lösung?


6. 1. 2. 1. Die Sperrung kann umgangen werden


Während staatlich verordnetes Labeln und Filtern auf breiter Ebene also die Kommunikationsfreiheit massiv behindern würde und deswegen auch grundgesetzwidrig wäre (da sie eine Art der Vorzensur darstellt), (318)  könnten in Deutschland die Provider staatlich verpflichtet werden, einzelne rechtswidrige Seiten sperren zu lassen, wie es in der Vergangenheit in Einzelfällen bereits versucht wurde. (319)  Zu einer solchen Sperrung sind die Provider (nur) dann verpflichtet, wenn sie technisch möglich und finanziell zumutbar sind. (320)  So wäre eine richterlich angeordnete Sperrung denkbar, durch die alle deutschen Internetprovider gebunden wären, wobei durch die Rechtsstaatlichkeit die Gefahr des Mißbrauchs durch gesellschaftliche Gruppen oder staatliche Stellen verhindert wäre. Allerdings ist dabei zu bedenken, welchen Zweck eine solche Sperrung erfüllen soll. Für den Fall, daß die Sperrverfügung veröffentlicht wird, ist es sehr wahrscheinlich, daß sowohl der Autor des Webdokuments (soweit er daran interessiert ist, daß seine Publikation auch in Deutschland abrufbar ist) als auch “Free Speech”-Aktivisten die verbotene Seite unter anderen Webadressen zugänglich zumachen, wie es im Fall der “Zündelsite” und der Onlineausgabe der “radikal” geschehen ist. Sollten hingegen die Adressen der gesperrten Seiten aus diesem Grund geheim gehalten werden, so dürfte das ein empfindlicher Verstoß gegen das Gebot der Transparenz staatlichen Wirkens sein, wodurch die staatlichen Eingriffe in die Kommunikationsfreiheit jeder gesellschaftlichen Kontrolle entzogen wären. Außerdem muß beachtet werden, daß die gesperrten Seiten weiterhin für jeden Nutzer einfach über den Browser mittels frei zugänglicher automatischer Übersetzungsdienste oder Anonymisierungsseiten zugänglich bleibt, weil der Inhalt der Seiten nicht über die gesperrte Internetseite, sondern über den Umweg der jeweiligen Dienste abgerufen wird, so daß der Provider sie grundsätzlich nicht als gesperrt identifizieren kann. Da diese Dienste meist in Amerika beheimatet sind, werden sie sich kaum auf die (technisch auch nicht unaufwendige) Sperrung einlassen und die fraglichen Seiten von ihrem Übersetzungsdienst ausschließen. Eine folgerichtige generelle deutsche Blockierung der Übersetzungsseiten würde die Nutzungsmöglichkeiten des Internets aus Deutschland erheblich beschränken und dürfte der garantierten Informationsfreiheit des Grundgesetzes (Art. 5 I Satz 1, 2. Halbsatz “Jeder hat das Recht, [...] sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.”) direkt entgegenstehen. Auch eine Blockierung der Anonymisierungsdienste erscheint unter dem Gesichtspunkt der informationellen Selbstbestimmung zumindest sehr fragwürdig, auch wenn die Einstufung der Anonymität im Internet als Grundrecht (321)  mit Berufung auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur informationellen Selbstbestimmung 1994 sicherlich keine juristisch haltbare Einschätzung darstellt. Daß allerdings auch staatlicherseits die mögliche Anonymität ihrer Bürger im Internet als wichtiges Recht angesehen wird, zeigt sich in der Unterstützung deutscher Forschungsprojekte zum anonymen Onlineeinkauf (322)  und zum anonymen Surfen selbst (323)  durch das Bundeswirtschaftsministerium. Sogar eine solche höchst problematische Sperrung würde allerdings die grundsätzliche Zugänglichkeit gesperrter Seiten nicht verhindern können. Neben dem noch immer erwarteten Hackerprogramm “Peekabooty”, mit dem sogar die chinesische Zensur umgangen werden können soll, dessen praktische Funktionalität aber noch völlig unbekannt ist, da die einzige öffentliche Vorführung nur auf einem zu Demonstrationszwecken eingerichteten Netzwerk aus drei Computern stattfand, (324)  dürfte das bereits veröffentlichte Programm “Triangle Boy” des amerikanischen Anonymisierungsdienstes “SafeWeb” für die Umgehung jeglicher Sperrmaßnahmen einsetzbar sein. Das Potential von “Triangle Boy” dürfte dabei kaum zu unterschätzen sein, da das amerikanische “International Broadcasting Bureau”, die Muttergesellschaft der “Voice of America”, ein Servernetz finanzieren wird, mit dem die chinesische Internetzensur gezielt umgangen werden soll, so daß Chinesen von den staatlichen Autoritäten verbotene Webseiten abrufen können. (325)  Ein Hinweis darauf, daß die von der Firma “SafeWeb” dafür entwickelte Technik ein hohes Maß an technischer Zuverlässigkeit garantiert, kann wohl in der Finanziellen Unterstützung der Firma bei der Entwicklung ihrer Technik und Infrastruktur gegen die weltweite Zensur durch den amerikanischen Auslandsgeheimdienst CIA (326)  gesehen werden, so daß es sehr unwahrscheinlich anmutet, daß staatliche Stellen wirksam gegen die Server von “SafeWeb” vorgehen können. (327)  Möglich wäre zuletzt noch das Verbot entsprechender Software zum Umgehen der Sperrmaßnahmen. Nun sind sowohl “Triangle Boy” als auch “Peekabooty” darauf angelegt, in Staaten genutzt zu werden, in denen das Abrufen verbotener Informationen mit sehr empfindlichen Haftstrafen geahndet wird und das Publizieren verbotener Informationen sogar mit dem Tod bestraft werden kann. Daher kann man ohne tiefere technische Kenntnisse sicher davon ausgehen, daß eine Kontrolle dieser Programme nicht ohne Schwierigkeiten möglich sein wird und mit den Mitteln eines demokratischen Rechtsstaats kaum durchzuführen ist.
Technisch am einfachsten, aber finanziell weniger günstig, ist natürlich die Einwahl bei einem ausländischen Internetprovider, wodurch die Sperrung ebenfalls umgangen werden kann.
Gesperrte Seiten werden also weiterhin auch von Deutschland aus abgerufen werden können. Der Zugriff auf “verbotene” Inhalte kann also nicht grundsätzlich verhindert werden.


6. 1. 2. 2. Nachteile beim Umgehen von Seitensperrungen


Allerdings ist die Möglichkeit, gesperrte Seiten per Übersetzungsdienst zu betrachten, zwar einfach zu bewerkstelligen, aber nicht besonders bequem, da hierbei eine Webseite automatisch in eine andere Sprache übersetzt wird, was nicht immer befriedigende Ergebnisse bringt. So müßte man z.B. eine gesperrte deutsche Seite ins Englische übersetzen lassen, um sie betrachten zu können, was zumindest unbequem wäre.
Bei den bisher verfügbaren Anonymisierungsdiensten ist eine kostenlose Nutzung zur Zeit nur dann möglich, wenn gleichzeitig mit der gewünschten Webseite ein Werbebanner eingeblendet wird, was von den meisten Nutzern als störend empfunden wird.
Die Software “Triangle Boy” oder “Peekabooty” muß zusätzlich zum Browser installiert werden und zur Benutzung korrekt konfiguriert werden. Zusätzlich könnte es zu einem Geschwindigkeitsverlust beim Surfen kommen. Je nach Komplexität der Konfiguration und der schließlichen Geschwindigkeit könnten viele Surfer auf den Einsatz der Programme verzichten.


6. 1. 2. 3. Seitensperrungen könnten begrenzt wirken


Daher stellt sich die am Beginn dieser Überlegungen gestellte Frage nach dem Ziel der Sperrung einzelner Webseiten. Wirklich verhindern kann eine Sperrung den Zugriff auf die “gesperrten” Webseiten nicht. Gerade diejenigen, die ein Interesse haben, eine bestimmte Webseite abzurufen, werden einen der beschriebenen Wege nutzen, um an ihr Ziel zu gelangen. Wenn es aber darum geht, den größten Teil der Surfer von bestimmten Seiten fernzuhalten oder sogar nur symbolisch die Illegalität der gesperrten Seite auszudrücken, dann ist eine “Sperrung” durchführbar. Dabei muß offenbleiben, wie breit sich infolge eines solchen staatlichen Beschlusses Programme wie “Peekabooty” und “Triangle Boy” unter den Nutzern verbreiten wird und ob sich für eine Sperrung mit Symbolcharakter der finanzielle Aufwand bei den Providern lohnt bzw. ob unter diesen Umständen eine Verpflichtung zur Sperrung überhaupt noch verhältnismäßig und damit rechtmäßig wäre.




6. 2. Alternative Ansätze


Hausmanninger hält Labeling und Filterung von Webseiten für ungeeignet um gegen fragwürdige Webangebote vorzugehen, weist aber darauf hin, daß damit die keineswegs die Regulierung des Internets aus ethischer Perspektive gänzlich abzulehnen ist, im Gegenteil besteht durchaus “Regulierungsbedarf” für das Medium Internet. (328)  Während die Versuche der deutschen Justiz, das Internet zu regulieren, zumeist deswegen problematisch oder erfolglos waren, weil die Internationalität des Mediums Internet nicht beachtet wurde, berücksichtigt Hausmanningers ethischer Ansatz diese Eigenschaft des Internets, wodurch es sich von den anderen Medien grundlegend unterscheidet.




6. 2. 1. Weltethos für das Internet


Gerade die Internationalität des Netzes läßt Regulierungsversuche auf nationaler Ebene oft ins Leere laufen, wie sich in der Diskussion der technischen Möglichkeiten gezeigt hat. Hausmanninger setzt dabei bei seinem Vorschlag zur medienethischen Regulierung des Internets auf internationale Zusammenarbeit, die Pluralität und Diversität des Netzes gewährleisten soll. Da es vor verschiedenen kulturellen Hintergründen zu unterschiedlichen Vorstellungen von dem kommt, was ethisch erforderlich ist, setzt Hausmanninger die interkulturelle gemeinsame Suche nach übereinstimmenden oder ähnlichen ethischen Maximen in allen kulturellen Weltanschauungen an den Anfang seiner Überlegungen. (329)  Als erstes Ergebnis der bisherigen Bemühungen bei der Suche nach einem “Weltethos” zeigt sich, daß eine faktische Übereinstimmung bestimmter moralischer Grundregeln feststellbar ist. (330)  So finden sich in allen Kulturen eine an die als “Goldene Regel” bezeichnete Grundmaxime “Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen.” (331)  angelehnte ethische Grundregel wieder, ebenso wie das ethische Tötungsverbot und die moralische Pflicht, die Eltern zu versorgen sowie eine Vorstellung von der Würde der Person. (332)  Je nach kultureller Beheimatung fallen dabei allerdings die Begründungen für die moralischen Forderungen sehr unterschiedlich aus. So können zur Herleitung der Menschenrechte “religiös-ethische Begründungen ebenso wie ein kantisch-subjektorientierter, ein diskursethischer, ein gerechtigkeits-theoretischer oder auch ein utilitaristischer, ein vertragstheorethischer oder ein neoaristotelischer Zugang” (333)  herangezogen werden. Diese Differenzen in der Begründung der ethischen Normen sind irrelevant, soweit es um die Erreichung ethischer Übereinstimmungen geht, wie sie für ein Weltethos für das Internet notwendig sind. (334)  Auf der Grundlage dieser weltweiten kulturellen Übereinstimmungen könnte eine Art “Rahmenethos” gebildet werden, das unabhängig von den kulturell sehr verschiedenen Begründungen für die ethischen Regeln einen “überlappenden Konsens” der faktisch existierenden Regeln bildet. (335)  Die Gültigkeit dieses gemeinsamen Ethos leitet sich aus dem Konsens ab, so daß die Existenz der gemeinsamen ethischen Normen in allen Kulturen als Beleg für ihre “objektive Gerechtigkeit” verstanden wird und somit das Rahmenethos in seiner universellen Gültigkeit stärkt. (336)  Innerhalb des gemeinsamen Rahmenethos können weiterhin sogenannte “Binnenmoralen” existieren, die unterschiedliche und auch gegensätzliche kulturelle, religiöse und gesellschaftliche Ethiken besitzen, aber durch das gleiche Rahmenethos verbunden bleiben. (337)  Die Ideologien totalitärer Staaten fallen aus dem gemeinsamen ethischen Konsens heraus, da sie ebenso wie andere unmoralische Konzepte keine konsistente ethische Begründung aufweisen können. “Hier gibt es mithin eine Legitimitätsgrenze für Pluralität und Diversität.” (338) 


6. 2. 2. Globale Rechtsvorschriften vor dem Hintergrund des Weltethos


Die Ausbildung der jeweiligen Binnenmoralen und der universellen Ethik muß nach Hausmanninger rechtlich abgesichert werden, da ebenso wie in der realen Welt die kollektive Gemeinschaft nicht allein durch Ethik und Moral gewährleistet werden kann. (339)  Aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Vorstellungen von Ethik existieren in verschiedenen Staaten und Kulturkreisen natürlicherweise auch unterschiedliche Rechtsvorschriften. So wie Hausmanninger dieses Problem der “Pluralität und Differenz” auf kultureller Ebene über die Verständigung über ein Rahmenethos angeht, so sieht er auch auf rechtlicher Ebene die Lösung in “globale[n] Rahmenvereinbarungen, die die Rechtskulturen der Welt miteinander so verzahnen, dass sie für eine transnationale Bekämpfung von Kriminalität fruchtbar gemacht werden können.” (340)  Zum praktischen Umgang mit Handlungen, die in verschiedenen Staaten rechtlich unterschiedlich beurteilt werden (etwa Aufstachelung zum Rassenhaß und Volksverhetzung in Deutschland, legitime Inanspruchnahme des Rechts auf freie Meinungsäußerung in den USA), schlägt Hausmanninger vor, daß für die Strafverfolgung die Rechtslage des Landes gilt, “in der dieses Handeln seinen Ursprung hat oder dieses Angebot gespeichert ist.” (341)  Dieser Ansatz Hausmanningers ist sehr vielversprechend, bleibt aber leider in dieser Formulierung zu undeutlich. Zwischen den von ihm nebeneinander gestellten Möglichkeiten, die zunächst als fast identisch begriffen werden könnten, besteht ein fundamentaler Unterschied. Am Beispiel der deutschen Rechtsextremisten, die auf einem amerikanischen Server publizieren, dürfte das deutlich werden. Gespeichert ist das Angebot unzweifelhaft auf dem Gebiet der Vereinigten Staaten von Amerika, wo der Text durch das verfassungsmäßige Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit geschützt ist. Seinen Ursprung hat die Publikation (zumindest in diesem Beispiel) ausschließlich und eindeutig in Deutschland, wo er als Volksverhetzung strafbar ist. Nach dem “Ursprungsprinzip” ist der publizierte Text demnach justitiabel, nach dem “Prinzip des Serverstandorts” nicht. Für Deutschland kommt erschwerend hinzu, daß der Bundesgerichtshof wie gezeigt keines der beiden Prinzipen anerkennt, sondern deutsches Recht für alle in Deutschland abrufbare Internetangebote - unabhängig von Ursprung und Serverstandort - anwenden will (was praktisch alle Webangebote weltweit betrifft).


6. 2. 2. 1. Ein Lösungsvorschlag auf Basis der Anerkennung unter-    schiedlicher Binnenmoralen


Hier könnte die Lösung des Problems tatsächlich in der Kombination von Ursprungsprinzip, Serverstandort und der Beachtung unterschiedlicher (nationaler) Binnenmoralen liegen, die gegensätzlich nebeneinander existieren. Praktisch bedeutet das, daß volksverhetzende Meinungsäußerungen, die ihren Ursprung in Deutschland haben, dort auch strafbar bleiben und strafrechtlich verfolgt werden, die Binnenmoral der USA jedoch akzeptiert wird, indem dort legale (und in Deutschland potentiell strafbare) Webseiten in Deutschland nicht verfolgt werden, soweit der Autor außerhalb des deutschen Staatsgebiets handelt. Strafbare Webangebote, die von Deutschland aus in Amerika betrieben werden, könnten somit durch die deutschen Behörden zwar nicht geschlossen werden, aber nach Ermittlung der Urheber in Deutschland bestraft werden, wobei auf die Unterstützung durch amerikanische Behörden verzichtet werden müßte, weil für diese kein Gesetzesverstoß vorliegt. Auf der anderen Seite ist der deutschen Staatsgewalt möglich, ihrer nationaler Binnenmoral entsprechend, rechtsextremistische (und andere verfassungsfeindliche) Webangebote auf deutschen Servern zu schließen (und die Urheber zu bestrafen, soweit sie in Deutschland leben). Allerdings ist zuzugestehen, daß auch dieser Lösungsvorschlag nicht problemfrei bleibt, da die absurde Situation entstehen würde, daß bei kurzfristiger Ausreise in Deutschland agierender Rechtsextremisten zur Publizierung ihres Webangebotes in ein Land mit einem weiteren Verständnis der Meinungsäußerungsfreiheit diese straffrei blieben. Eventuell müßte in diesem Fall zur Beurteilung der Rechtslage Wohnsitz und überwiegender Aufenthalt hinzugezogen werden, um die geschilderten absurde Verhältnisse zu verhindern, ohne daß andererseits ein Tourist bei der Einreise in ein Land mit abweichender Internetgesetzgebung mit der Verhaftung rechnen muß, weil der in seiner Heimat völlig legale Inhalt seiner Homepage gegen die Gesetze seines Urlaubslandes verstößt.




6. 2. 2. 2. Unterschiedliche Binnenmoralen als konstruktive Provokation


Hausmanninger betont, daß aus medienethischem Blickwinkel nicht notwendigerweise die Durchsetzung der strengeren Vorstellungen von dem, was online erlaubt sein soll, wünschenswert ist. Eine kulturelle Differenz zwischen demokratischen Staaten, wie sie etwa im Hinblick auf die Weite der Meinungsäußerungsfreiheit zwischen Deutschland und der USA besteht, kann durchaus auch als konstruktive Provokation des Staates mit der rigideren Rechtsauffassung verstanden werden, die zu einer Reflexion des eigenen Standpunktes führen könnte. (342) 
6. 2. 3. Jugendschutz


“Sollen wir es also so leicht hingehen lassen, daß die Kinder ganz beliebige Märchen und von ganz Beliebigen erfundene anhören und so in ihre Seelen Vorstellungen aufnehmen, die meistenteils denen entgegengesetzt sind, welche sie, wenn sie erwachsen sind, unserer Meinung nach werden haben sollen? [...] Zuerst also, wie es scheint, müssen wir Aufsicht führen über die, welche Märchen und Sagen dichten, und welches Märchen sie gut gedichtet haben, dieses einführen, welches aber nicht, das ausschließen.”
Platon, Der Staat

Einer der Hauptgründe für den “Ruf nach Zensur des Internets” liegt in der Befürchtung, Kinder und Jugendliche könnten durch die dargebotenen Webangebote “sozialethisch desorientiert” und “sittlich schwer gefährdet” werden.


6. 2. 3. 1. Jugendschutz funktioniert nicht “bewahrpädagogisch”


Der Versuch, dieses Problem des Jugendschutzes im Internet durch technische Filterprogramme zu “lösen”, “statt medienpädagogisch mit den Jugendlichen zu arbeiten und ihre Medienkompetenz zu stärken” (343)  wird von Vollbrecht scharf verurteilt als ein Beispiel für technizistische “Reduktion aller menschlichen Konflikte auf technische Fragen, für die dann nur noch technische Lösungen gesucht werden”, während tatsächlich keine Probleme gelöst, sondern nur durch andere, scheinbar bequemere Probleme ersetzt werden. (344)  Beim Problem des Jugendschutzes im Internet wird die reine Problemverlagerung auf eine scheinbar technische Frage daran deutlich, daß unbestritten derart problematische Inhalte im Internet zu finden sind (wie oben aufgezeigt), und es nicht unwahrscheinlich ist, daß diese Seiten gerade von Kindern und Jugendlichen unter dem Aspekt der Mutprobe besucht werden, (345)  aber, wie Hausmanninger richtig betont, der Großteil der Angebote des Internets in keiner Weise jugendgefährdend ist und entsprechende Inhalte auch “nicht erst mit [... dem Internet] sozial präsent sind.” (346)  Bereits lange vor der Existenz des Internets als Massenmedium kursierten Videos der Reihe “Faces of Death”, die (tatsächliche oder vorgebliche) Aufnahmen von sterbenden Menschen zeigten. (347)  Eine der grundlegenden, aber meist verdrängten Erkenntnissen aus den Bemühungen um Jugendschutz in den traditionellen Medien und mit Gefährdungen außerhalb der Medien ist, daß ein “repressiver Jugendschutz”, der darauf setzt, den Zugang von Kindern und Jugendlichen zu als gefährlich für eine günstige Sozialisation erachteten Gehalten oder Dingen zu verhindern, nicht ausreichend funktioniert. (348)  Denn “Kinder haben entsprechend ihrer Lebenssituation eigene Wünsche und Bedürfnisse, die sie mit dem Medienkonsum befriedigen”, (349)  wobei sie jedoch (hier am Beispiel des des Fernsehens gezeigt) auch bewußt aus dem familiären Schutzraum der mit den Eltern gemeinsam gesehenen oder von ihnen abgesegneten Sendungen ausbrechen indem sie heimlich fernsehen (etwa bei Freunden) oder den Eltern unbekannte Sendungen sehen. Kinder nutzen die Medien so zur Distinktion untereinander und gegenüber der Welt der Erwachsenen. Dieser Raum des eigenständigen Lebens, der “noch nicht von elterlicher und pädagogischer Fürsorge durchdrungen ist”, (350)  ist notwendig für die Subjektkonstitution und Identitätsbildung der Kinder. (351)  Daher ist eine “partielle[] Medienisolation” (352)  oder dauernde Beaufsichtigung des Medienkonsums der Kinder und Jugendlichen weder praktisch durchsetzbar (353)  noch wünschenswert. (354) 






6. 2. 3. 1. Lösung: Erziehung zur Medienkompetenz


“Mein Gott, Sie Dummkopf, gerade die gebildeten Leser lassen sich hinters Licht führen. Schwierigkeiten haben wir wir mit den anderen. Haben Sie je einen Arbeiter gesehen, der einer Zeitung geglaubt hätte? Er geht davon aus, daß alles bloß Schwindel und Propaganda ist, und liest die Leitartikel gar nicht erst. Er kauft die Zeitung wegen der Fußballergebnisse, wegen der kleinen Meldungen über Mädchen, die aus Fenstern fallen, und über Leichen, die in herrschaftlichen Londoner Wohnungen gefunden werden. Er ist unser Problem: ihn müssen wir umpolen. Aber das gebildete Publikum, die Leser der anspruchsvollen Wochenzeitschriften brauchen nicht umgepolt zu werden. Die Leute sind schon in Ordnung: sie glauben alles.”
Miß Hardcastle in C. S. Lewis “Die böse Macht”.



Die Erkenntnis, daß somit der “bewahrpädagogische” Ansatz des Jugendschutz nicht zum Erfolg führen kann, hat sich nach Hausmanninger in der Medienpädagogik länger durchgesetzt “als in der Politik, im Recht und in den Institutionen gesellschaftlicher Kommunikationskontrolle.” (355)  Im Gegensatz zu den genannten Bereichen setzt die Medienpädagogik daher heute an erster Stelle auf die Unterstützung und Förderung von Medienkompetenz, die ebenfalls eine Art “Filter” darstellt, nämlich “einen Filter, der im Ethos des Individuums verankert ist und ein wesentliches Element der Selbststeuerungsfähigkeit ausmacht.” (356)  Hier kommt es also auf die Erziehung durch die Eltern, aber natürlich auch durch Kindergarten und Schule an. Kinder lernen bisher, daß sie von Fremden nichts annehmen dürfen und ihnen nicht nach hause folgen dürfen, daß es Lüge und Betrug gibt in der Welt und daß nicht jede Fernsehsendung oder Zeitschrift für sie geeignet ist. (357)  Ebenso wird zukünftig zur Erziehung hinzugehören müssen, daß Kinder lernen, daß sich hinter “Bekannten” aus Internet-Chats ganz andere Menschen verbergen können, als es scheint, weil sie ihr “Gegenüber” ja nicht sehen können. Sie müssen lernen, daß sie ihnen deswegen ebensowenig trauen dürfen, wie Fremden, die sie auf dem Spielplatz ansprechen. So wie schon bisher die Medienpädagogik in der Erziehung neben Mediengestaltung, Mediennutzung und Medienkunde zur Medienkritik anleiten will, die zu einer ethischen Wertung der Medienangebote führen soll, (358)  wird sie in Zukunft auch die Kompetenz für das Internet vermitteln müssen. Wenn bisher im Kindergarten die Medien themathisiert werden, die die Kinder bereits in ihrem Alltag nutzen, (359)  wird zukünftig die Beschäftigung mit dem Internet hinzukommen müssen, sobald es zur normalen Mediennutzung der Kinder gehört. Um zu einem verantworteten Umgang mit dem Medium Internet befähigen zu können, müssen Erzieher (im weiteren Sinne) und die Eltern der Kinder sich jedoch selbst mit dem Medium auskennen. (360)  Unter diesen Voraussetzungen spricht eigentlich nichs dagegen, daß die Erziehung zu einem verantworteten Umgang mit dem noch immer neuen und vielfach unbekannten Medium Internet gelingen kann. (361) 



Fußnote 307      Vgl. Hausmanninger 52.

Fußnote 308      Hausmanninger 52.

Fußnote 309      Vgl. ebd.

Fußnote 310      Vgl. ebd.

Fußnote 311      Hausmanninger 53.

Fußnote 312      Vgl. Hausmanninger 52f.

Fußnote 313      Vgl. Hausmanninger 53.

Fußnote 314      Vgl. Beschwerdestelle für Newsgroups, in: ZDF heute online 20. 8. 2001.

Fußnote 315      Vgl. Hausmanninger 53.

Fußnote 316      Hausmanninger 53.

Fußnote 317      Vgl. Hausmanninger 53.

Fußnote 318      Vgl. Harmann.

Fußnote 319      Vgl. Koschnick.

Fußnote 320      Vgl. Schulzki-Haddouti.

Fußnote 321      Vgl. [Olaf Pursche], Anonymität ist ein Grundrecht, in: PC Professionell 10/2001.

Fußnote 322      Vgl. Stefan Krempl, Shoppen ohne Schatten, in: magazin für computertechnik 17/2001, 43.

Fußnote 323      Vgl. Neues Projekt für Anonymität im Internet, in: heise online 16. 2. 2001.

Fußnote 324      Vgl. Alarmstufe 40.

Fußnote 325      Vgl. Heike Edinger, USA wollen Internet in China befreien, in: Netzeitung 31. 8. 2001 (Edinger); Goedart Palm, Elektronische versus nationale Souveränität, in: Telepolis 3. 9.2001 (Palm); Mit Webservern gegen die Zensur in China, in: Spiegel online 30. 8. 2001.

Fußnote 326      Vgl. Duncan Campbell, CIA funds cyber war against Beijing censor, in: The Guardian 1. 9. 2001; Edinger; Palm.

Fußnote 327      Zwar ist auch die Technik von “SafeWeb” nicht hundertprozentig sicher, das System kann allerdings nur ausgehebelt werden, indem den Nutzern von Beginn an eine Verbindung vorgegaukelt wird, die nicht tatsächlich existiert, was nur durch permanente Überwachung , also mit gezielt eingesetzten geheimdienstlichen Mitteln möglich wäre. Somit wären weder Informationssicherheit, noch Rechtstaatlichkeit gegeben, so daß ein solches Vorgehen von vorneherein ausscheidet. (Vgl. Bhavin Bharat Bhansali, Man-In-the-Middle Attack - A Brief.)

Fußnote 328      Vgl. Thomas Hausmanninger, Angriff der Kontolleure. Teil 2: Wege zu Ethiken für das Internet, in: medien praktisch 3/01 (Angriff), 55.

Fußnote 329      Vgl. Angriff 55.

Fußnote 330      Vgl. Thomas Hausmanninger, Weltethos, in: Lexikon für Theologie und Kirche 10 (32001) (Weltethos), 1074; ebd.

Fußnote 331      Hier zitiert nach Lk 6,31.

Fußnote 332      Vgl. Weltethos 1074.

Fußnote 333      Angriff 55.

Fußnote 334      Vgl. ebd. Allerdings weist Hausmanninger (Weltethos 1074) auf die Gefahr hin, daß bei dauernder größerer Differenz der Begründungsdiskurse die von der Begründung abhängige inhaltliche Füllung nicht mehr als konsistente Bezugsgröße für die Lösung weltweiter Probleme fungieren kann.

Fußnote 335      Vgl. Angriff 55; Weltethos 1074.

Fußnote 336      Vgl. Angriff 55f.

Fußnote 337      Vgl. Weltethos 1074.

Fußnote 338      Angriff 56.

Fußnote 339      Vgl. Angriff 57.

Fußnote 340      Angriff 57.

Fußnote 341      Ebd.

Fußnote 342      Angriff 57.

Fußnote 343      Ralf Vollbrecht, Einführung in die Medienpädagogik, Weimheim u.a. 2001 (Vollbrecht) , 81.

Fußnote 344      Vgl. Vollbrecht 81.

Fußnote 345      Vgl. Gefährdung.

Fußnote 346      Angriff 57.

Fußnote 347      Vgl. Kahney.

Fußnote 348      Vgl. Angriff 57.

Fußnote 349      Dieter Wiedemann, Brauchen Kinder Kindermedien?, in: medien praktisch 2/01 (Wiedemann), 15.

Fußnote 350      Wiedemann 16.

Fußnote 351      Vgl. Wiedemann 15f.

Fußnote 352      Wiedemann 14.

Fußnote 353      Vgl. Brauch 238; Wiedemann 15f; Angriff 57.

Fußnote 354      Dabei dürfte jedoch Beck zu weit gehen, wenn er das Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern als “private Führsorglichkeitssklaveri” kennzeichnet und festhält, daß in unserer Gesellschaft “Kinder qua Geburt Leibeigene ihrer Eltern sind.” (U. Beck, Demokratisierung der Familie, in: Hans Peter Buba / N. F. Schneider (Hrg.), Familie. Zwischen gesellschaftlicher Prägung und individuellem Design, Opladen 1996, 47.)

Fußnote 355      Angriff 57.

Fußnote 356      Ebd.

Fußnote 357      Vgl. Angriff 57.

Fußnote 358      Vgl. Dieter Baake, Medienkompetenz als Netzwerk, in: medien praktisch 2/96 , 8.

Fußnote 359      Vgl. Roland Kohm, Medienkompetenz im Kindergarten, in: medien praktisch 2/01 (Kohm), 29.

Fußnote 360      Vgl. Wolfgang Burkhardt, Förderung kindlicher Medienkompetenz durch die Eltern (Schriftenreihe Medienforschung der Landesanstalt für Rundfunk Nordrhein-Westfalen 40), Opladen 2001, 124f; Kohm 29.

Fußnote 361      Vgl. Angriff 58.